„(…)Das Kennzeichen des modernen Menschen ist die Entwurzelung. Es obliegt dem Kulturhistoriker, zu zeigen, wie es zu dieser Entwurzelung kam. Das „Los von der Kirche“ im 16. Jahrhundert führte mit innerer Notwendigkeit zum „Los von Christus“ im 18. Jahrhundert und von da zum „Los von Gott“ im 19. Jahrhundert. Damit war die moderne Geistigkeit aus ihrem wichtigsten, tiefsten Lebenszusammenhang gerissen, aus ihrem Verwurzeltsein im Absoluten, im Selbststand des Seins, im Wert der Werte. Das Leben verlor seinen großen Sinn, seine innere Spannung und Höhenbewegung, seinen kraftvollen, durchgreifenden Eros, den nur das Göttliche zu entzünden vermag. Aus dem im Absoluten verankerten, in Gott geborgenen, starken, reichen Menschen wurde der auf sich selbst gestellte Mensch, der autonome Mensch. Dadurch weiterhin, daß er von seiner religiösen Umstellung aus der kirchlichen Gemeinschaft entsagte, der communio fidelium, dem ineinander und miteinander der Gläubigen, zerriß er seine zweite Lebenswurzel, den Zusammenhang mit der Volksgemeinschaft. Er verlor das in Leid und Freud, in Beten und Lieben sich bewährende Verwobensein mit dem „Du“ und dem „Wir“, mit jener ursprünglichen, überpersönlichen Einheit und Fülle, aus der der Einzelne seine Kraft immer wieder saugen und klären kann und ohne die er innerlich verarmt und vertrocknet. Nirgends, in keiner Gemeinschaft, ist wie in der katholischen Kirche der Gemeinschaftsgedanke, das Tun und Leiden, das Beten und Lieben, das Wachsen und Gestaltgewinnen durch die Einheit der Brüder so fest in Dogma, Sitte und Kultur eingebaut. Das Zerreißen der kirchlichen Gemeinschaft lockerte deshalb von selbst auch die Bande der Volksgemeinschaft und verdarb damit die tiefen Quellgründe eines gesunden, starken Menschentums, eines Menschentums der Fülle. Der autonome Mensch wurde ein einsamer Mensch, ein einziger. Aber noch weiter ging der Prozeß der Entwurzelung. Seitdem die Aufklärung, die Vernunft, das zusammenschauende, zusammenfassende Denken entthront und den auf das Einzelne, auf die Besonderung ausgehenden Verstand zum Alleinherrscher gemacht hatte, zerfiel der innere Haushalt des Menschen, seine geistige Einheit in ein Nebeneinander von Kräften und Funktionen. Statt von Seele sprach man von psychischen Vorgängen. Das Bewußtsein, ein Ich, der schöpferische Träger lebendiger Kräfte zu sein, ging dem Gebildeten mehr und mehr verloren. Und seitdem Kant und seine Schule das transzendentale Subjekt zum autonomen Gesetzgeber der Objektwelt, ja auch des eigenen empirischen Bewußtseins erhob, seitdem man an Stelle der Objektivität der Dinge und des eigenen Selbst nur mehr von einer logisch objektiven Gültigkeit, von einem „rein logischen Subjekt“ zu sprechen wagte, trat eine unheilvolle Lähmung des gesamten Wirklichkeitsbewußtseins ein. Die Philosophie „als ob“ hier und der „Solipsismus“ dort wurden das Gespenst, das Blut aus dem Wollen und Handeln zog. Der autonome, von Gott losgelöste und der einsame, vom Volkstum, von der Gemeinschaft weggerissene Mensch wurde nun auch von seinem empirischen Ich getrennt, ein Mensch „als ob“ und damit steril, unfruchtbar, der vom Geist der „Kritik“ zerfressene, wirklichkeitsfremde Mensch, der Mensch der bloßen Verneinung. Dieser blutleere, sterile Mensch der bloßen Verneinung kann auf die Dauer nicht leben. Der Mensch will aber leben. Sein Lebensdrang ist stärker als alle lebensfremde, graue Philosophie. Er schreit nach dem Leben, nach dem vollen, ganzen, persönlichen Leben. Das Verneinen hat er satt, bejahen will er. Denn nur in der entschlossenen Bejahung, in der kühnen Setzung liegen die Tat und das Leben.(…)“
(Entnommen dem Buch „Das Wesen des Katholizismus“ von Karl Adam, Patmos-Verlag Düsseldorf, 13. Aufl. 1957, IMPRIMATUR Coloniae, die 25 Julii 1940.)